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Neueste Bundesgerichtsentscheide zur Vereinheitlichung des Unterhaltsrechts – Welche Änderungen gibt es?

Lic. iur. Christine Kobelt im Interview

Mit mehreren Leitentscheiden beschloss das Bundesgericht vor Kurzem eine Vereinheitlichung des Unterhaltsrechts. Welche Konsequenzen das für Frauen und Männer nach sich zieht, wie der Unterhalt nun berechnet wird und welche Fragen offen bleiben, darüber sprach familienrechtsinfo.ch mit Familienrechtsexpertin lic. iur. Christine Kobelt.

Die Rechtsanwältin und Fachanwältin SAV Familienrecht studierte an der Universität Zürich und Fribourg und erlangte das Anwaltspatent im Kanton St. Gallen. Sie verfügt zudem über die Ausbildung als CLP-Anwältin. Sie praktiziert seit 2002 als Rechtsanwältin. Seit 2009 ist sie Partnerin bei SwissLegal asg.advocati in St. Gallen. Als Fachanwältin SAV Familienrecht ist Christine Kobelt vorwiegend im Familienrecht tätig und beschäftigt sich im beruflichen Alltag häufig mit Fragen des Unterhaltsrechts.

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lic. iur. Christine Kobelt

Rechtsanwältin für Familienrecht

In welchen Bereichen des Unterhaltsrechts hat das Bundesgericht kürzlich Änderungen beschlossen?

Die neuen Leitentscheide des Bundesgerichts haben Einfluss auf das gesamte Unterhaltsrecht: Sie betreffen die Berechnung von Kinderunterhalt (Bar- und Betreuungsunterhalt) für minderjährige Kinder von verheirateten oder unverheirateten Eltern und den Volljährigenunterhalt. Auch für den Unterhalt unter Ehegatten bringen die Leitentscheide Präzisierungen.

Das Primat der Eigenversorgung wurde vom Bundesgericht hervorgehoben. Es gilt also der Grundsatz, dass man von beiden Ehegatten verlangt, dass sie für ihren Lebensunterhalt nach der Scheidung wiederum selber aufkommen. Das Alter, gemeinsame Kinder oder die gesundheitliche Situation sind etwa Gründe, welche diesen Grundsatz aber einschränken.

Wie sehen die Änderungen in Bezug auf das Arbeiten nach der Scheidung aus?

Einerseits hob das Bundesgericht das Primat der Eigenversorgung hervor. Es gilt der Grundsatz, dass die Ehegatten nach der Trennung oder Scheidung für ihren Lebensunterhalt selber aufkommen sollen. Das Gericht verlangt somit auch von demjenigen Ehegatten, der bislang nicht oder nur teilweise berufstätig war, die Aufnahme oder Ausdehnung der Erwerbstätigkeit nach der Scheidung. Von diesem Grundsatz wird dann abgewichen, wenn gemeinsame Kinder zu betreuen sind.

Das Bundesgericht hat auch die sogenannte „45-Regel“ offiziell aufgehoben. Diese besagte, dass einem Ehegatten ab Alter 45, wenn er bis dahin aufgrund der Aufgabenteilung in der Ehe nicht erwerbstätig war, die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nach der Trennung nicht mehr zugemutet wurde. Auf die Fortsetzung der ehelichen Aufgabenteilung nach der Trennung oder Scheidung kann sich ein Ehegatte nun nicht mehr berufen.

In Bezug auf Paare mit Kindern hat das Bundesgericht bereits vor einigen Monaten in einem Leitentscheid das sogenannte Schulstufenmodell festgeschrieben. Vom hauptbetreuenden Elternteil wird nach der Trennung eine mindestens 50-prozentige Erwerbstätigkeit nach dem Eintritt des jüngsten Kindes in die obligatorische Schule (sprich Kindergarten, eventuell erste Klasse) und eine Erhöhung auf 80 Prozent nach Übertritt des jüngsten Kindes in die Oberstufe verlangt. Ab dem 16. Altersjahr des jüngsten Kindes wird von einer 100-prozentigen Erwerbstätigkeit beider Eltern ausgegangen.

Was verändert sich bei der Berechnung des Unterhalts?

Das schweizerische Zivilgesetzbuch spricht etwa beim Kindesunterhalt nur davon, dass der Unterhalt den Bedürfnissen des Kindes und der Lebensstellung sowie der Leistungsfähigkeit der Eltern entsprechen muss. Wie man den Unterhaltsbeitrag konkret festlegt, schreibt das Gesetz nicht vor. Vielmehr hat das Gericht im Einzelfall zu entscheiden. In der Schweiz haben sich daher in den verschiedenen Kantonen vielfältige Berechnungsmethoden entwickelt.

Das Bundesgericht gibt nun eine für die ganze Schweiz einheitliche Berechnungsmethode vor: Die sogenannte zweistufige Methode mit Überschussverteilung. Diese ist nicht vollkommen neu. Sie wurde bereits in einigen Kantonen angewandt. Es findet jetzt aber eine Vereinheitlichung und Standardisierung statt.

familienrechtsinfo.ch: Was verändert sich in Bezug auf die sogenannte „lebensprägende Ehe“?

Dazu muss man vorausschicken, dass man für die Festlegung des Ehegatten-Unterhalts nach der Scheidung massgebend darauf achtet, ob die Ehe lebensprägend war oder nicht. Bei den lebensprägenden Ehen wird ein Anspruch der Ehegatten auf Fortsetzung des zuletzt gelebten ehelichen Lebensstandards abgeleitet. Bei nicht lebensprägenden Ehen gibt es keinen Anspruch auf Fortsetzung des ehelichen Standards, sondern man knüpft am vorehelichen Lebensstandard an.

Von lebensprägender Ehe ging man bislang aus, wenn eine Ehe mindestens zehn Jahre dauerte oder aus ihr gemeinsame Kinder hervorgegangen sind. Das Bundesgericht erklärte jetzt neu, dass man die Lebensprägung einer Ehe nicht schematisch anhand der Kriterien „Dauer“ und „Kinder“ festlegen darf.

Vielmehr muss man auf die Besonderheiten jedes Einzelfalles abstellen, um zu entscheiden, ob ein Anspruch auf Fortsetzung des bisherigen Standards besteht oder nicht. So muss eine langjährige Ehe nicht automatisch bedeuten, dass man Anspruch auf Unterhalt des Ehepartners hat, um den bisherigen Lebensstandard halten zu können. In diesem Zusammenhang wurde auch das Primat der Eigenversorgung betont.

Ab wann sind die neuen Regeln gültig?

Die neuen Grundsätze werden von den Gerichten ab sofort bei ihren Entscheiden angewendet.

Bilden die neuen Regelungen Ihres Erachtens die Realität von Männern und Frauen in der Schweiz ab?

Nein, oder noch nicht! Das Bundesgericht greift der gesellschaftlichen Entwicklung meines Erachtens vor. In meiner Praxis stelle ich fest, dass viele Familien eine klassische Rollenverteilung leben. Mindestens ein Elternteil – und das ist meistens die Ehefrau und Mutter – gibt nach der Geburt der Kinder die Erwerbstätigkeit zunächst ganz oder grösstenteils auf. Der Einstieg erfolgt zwar später oft wieder, aber meist nur in Teilzeit von 40 bis 50 Prozent.

Kommt es dann zu einer Trennung stellen die vom Bundesgericht propagierten Regeln (wie der Grundsatz der Eigenversorgungskapazität) für denjenigen Elternteil, der seine berufliche Karriere zu Gunsten der Kinder zurückgestellt hat, eine Herausforderung dar. Beim verlangten Wiedereinstieg ins Erwerbsleben kann dieser Elternteil (meist die Frau) in der Regel nicht dort anknüpfen, wo er aufgehört hat und muss einen tieferen Lohn und weniger qualifizierte Positionen akzeptieren.

Was halten Sie grundsätzlich von den Neuerungen?

Die Vereinheitlichung kann man begrüssen. Es bleiben aber trotz dieser Leitentscheide noch viele Fragen offen. Der Ermessensspielraum der Gerichte ist aus meiner Sicht noch immer gross. Ob die Leitentscheide tatsächlich zu einer einheitlichen Praxis in der ganzen Schweiz führen werden, wird sich noch zeigen.

In welchen Bereichen ist der Ermessensspielraum derzeit noch gross?

Zum Beispiel im Bereich der sogenannten Überschussverteilung. Das hat mit der zweistufigen Berechnungsmethode zu tun, bei der man die Lebenshaltungskosten aller Familienmitglieder berechnet und dann die Kosten dem Einkommen gegenüberstellt.

Soweit es dabei zu einem positiven Saldo kommt, wird dieser Überschuss auf die einzelnen Familienmitglieder verteilt. Bei dieser Verteilung gibt es keine starren Quoten. Das Bundesgericht hält etwa fest, dass die Verteilung des Überschusses bei sehr hohen Einkommensverhältnissen Grenzen hat. Es ist darauf zu achten, dass der Bedarf in der Trennung nicht höher beziffert wird als der bisherige Lebensstandard. Hier gibt es folglich einen Ermessensspielraum der Gerichte.

Teilen Sie die Familienaufgaben und die Kinderbetreuung möglichst paritätisch untereinander auf. Kein Ehegatte sollte längere Zeit völlig aus dem Berufsleben ausscheiden, damit er später keinen Nachteil hat, wenn von ihm verlangt wird, wieder in die Arbeitswelt zurückzukehren.

Was raten Sie, als Expertin im Familienrecht, Menschen in Bezug auf die neuen Entscheide des Bundesgerichts?

Ich rate Paaren grundsätzlich, sich gleich bei der Heirat und der Familienplanung auch mit den rechtlichen Aspekten ihrer Entscheidungen zu befassen. Das schützt später vor unangenehmen Überraschungen. Fakt ist, dass man zwar als Paar grundsätzlich völlig frei ist, wie man die Aufgaben in Ehe und Familie aufteilt. Bei einer Trennung oder Scheidung werden die Gerichte diese individuellen Regelungen im Streitfall nicht weiter beachten, sondern die besprochenen Regeln des Bundesgerichts umsetzen. Das sollte man beim gemeinsam erarbeiteten Familienmodell berücksichtigen. Kurz gesagt: Teilen Sie die Familienaufgaben und die Kinderbetreuung möglichst paritätisch untereinander auf. Kein Ehegatte sollte längere Zeit völlig aus dem Berufsleben ausscheiden, damit er im Falle einer Trennung nicht benachteiligt ist.

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lic. iur. Christine Kobelt

Rechtsanwältin für Familienrecht
in 9000 St. Gallen

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