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Die alternierende Obhut – Was sollte rund um das Wechselmodell beachtet werden?

Lic. iur. Andreas H. Brodbeck, LL.M. im Interview

Die alternierende Obhut bringt speziell für das betroffene Kind einige Vorteile mit sich. Auch nach Scheidung der Eltern wird die Obhut und somit auch die Kindererziehung aufgeteilt. Worauf sollten sich Eltern beim Wechselmodell einstellen? Welche Voraussetzungen muss die Familie erfüllen? Wie erfolgt die konkrete Aufteilung der Obhut? Sollte eine Vereinbarung zwischen den Eltern geschlossen werden und wie sieht diese aus? Lic. iur. Andreas H. Brodbeck ist Rechtsanwalt in Basel und Experte für Familienrecht. Im Interview erläutert er rechtlich Wissenswertes rund um das Wechselmodell.

Lic. iur. Andreas H. Brodbeck hat in seiner langjährigen Erfahrung bereits zahlreiche Familien begleitet und unterstützt. Er ist in erster Linie auf das Familienrecht spezialisiert, beschäftigt sich jedoch auch regelmässig mit Erb-, Arbeits- Vertrags- und Strassenverkehrsrecht. Als Anwalt ist er Anlaufstelle in Rechtsfragen für Privatpersonen und betreut zahlreiche KMUs als externe Rechtsabteilung. Gerne berät er auch in Bezug auf wirtschaftliche Folgen einer Scheidung bzw. Trennung.

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Lic. iur. Andreas H. Brodbeck, LL.M.

Rechtsanwalt für Familienrecht

Was ist die alternierende Obhut und warum wird sie auch Wechselmodell genannt?

Die gesetzliche Bezeichnung des Wechselmodells lautet alternierende bzw. geteilte Obhut und beschreibt die Aufenthaltsmodalitäten eines Kindes bei getrenntlebenden Eltern. Seit Januar 2017 haben Eltern und Kinder in der Schweiz das Recht, eine abwechselnde Betreuung des Kindes durch beide Eltern zu verlangen. Dabei übernehmen beide einen substanziellen Teil der Betreuung und teilen sich die Verantwortung auf Augenhöhe. Die Kinder sind bei beiden Elternteilen zuhause. Studien legen nahe, dass sich Kinder im Wechselmodell wie in einer intakten Familie entwickeln. Bis vor einigen Jahren wurden die Kinder in der Regel unter die alleinige Obhut der Mutter gestellt. Dem Vater wurde praxisgemäss lediglich ein zweiwöchentliches Wochenendbesuchsrecht und zwei Wochen Ferien pro Jahr zugestanden.

Wer hat im Wechselmodell das Aufenthaltsbestimmungsrecht?

Seit Januar 2014 stehen die Kinder in der Regel auch nach der Scheidung unter der gemeinsamen elterlichen Sorge von Vater und Mutter. Die elterliche Sorge schliesst das Recht ein, den Aufenthaltsort des Kindes mitzubestimmen. Ungeachtet der Aufenthalts- und Betreuungsmodalitäten bedarf der Wechsel des Aufenthaltsortes des Kindes der Zustimmung des anderen Elternteils, wenn ein Umzug ins Ausland geplant ist oder wenn der Umzug erhebliche Auswirkungen auf die Ausübung der elterlichen Sorge und den persönlichen Verkehr durch den anderen Elternteil hat.

Die stressfreie Umsetzung eines Wechselmodells setzt meines Erachtens voraus, dass beide Eltern in der Nähe des Lebensmittelpunktes des Kindes wohnen, vor allem wenn das Kind noch jünger und weniger selbständig ist. Bei der alternierenden Obhut ist die Schwelle der Erheblichkeit gerade beim Wohnort somit grundsätzlich tiefer als bei der alleinigen Obhut.

Gibt es bestimmte Voraussetzungen, die erfüllt werden müssen?

Die Betreuungsregelung muss dem Kindeswohl entsprechen. Die Eltern müssen sowohl die Bereitschaft mitbringen, (gemeinsame) Verantwortung zu übernehmen, als auch die Möglichkeit haben, die anbegehrte Betreuung tatsächlich zu gewährleisten. Förderlich ist die Fähigkeit der Eltern, in Kinderbelangen konstruktiv zu kommunizieren. Leider ist das nicht immer der Fall, was aber nicht per se gegen eine alternierende Obhut spricht. Auch die Betreuungsverhältnisse vor der Trennung spielen eine Rolle. Ich habe teilweise den Eindruck, dass auch aus finanziellen Gründen um Betreuungsanteile gestritten wird. Als Faustregel gilt, dass der Betreuungsanteil mindestens 30% betragen muss. Am Ende des Tages zählt, dass das Kindeswohl gewährleistet wird. Bei Eltern, die sich die Betreuung bereits während aufrechter Ehe aufgeteilt haben, ist die alternierende Obhut jedenfalls zu empfehlen und in der Regel auch gerichtlich durchsetzbar.

Kindern zwei „Zuhause“ zur Verfügung zu stellen ist kostenintensiv (Wohnkosten, Diverses muss aus Praktikabilitätsgründen doppelt angeschafft werden), weshalb das Wechselmodell in knappen finanziellen Verhältnissen schwieriger umsetzbar ist. Weiter ist dieses auch dann kaum möglich, wenn ein Elternteil bspw. exzessiv viel arbeitet, bisher keine Kinderbetreuung übernommen hat und diese auch künftig nicht persönlich sicherstellen kann.

Die konkrete Aufteilung der Betreuungsanteile ist unterschiedlich, jedoch beträgt der Mindestanteil 30%. Priorität sollte immer die Gewährleistung des Kindeswohl sein, und nicht etwa finanzielle Gegebenheiten.“

In der Praxis: Wie wird das Wechselmodell rechtlich durchgesetzt? Schliessen die Eltern selbstständig eine Vereinbarung oder erfolgt dies durch ein Gericht?

Beides kommt vor. Es ist erfreulich, dass immer mehr Eltern sich zumindest im Grundsatz einig sind, die Kinder alternativ zu betreuen. Ungeachtet dessen können die finanziellen Konsequenzen streitig bleiben. Wehrt sich ein Elternteil gegen eine alternative Obhut, entscheidet das Gericht über die Betreuungsanteile.

Wie wird die Obhut konkret aufgeteilt?

Abgesehen von der vorherwähnten Minimalbetreuung von rund 30% sind die Eltern unter Berücksichtigung des Kindeswohls und der praktischen Umsetzbarkeit frei. Von wöchentlichen oder halbwöchentlichen Wechseln bis zur Aufteilung einzelner Wochentage kommt alles vor. Die Betreuungsanteile werden genau festgehalten. Ebenso die Verteilung der Kinderkosten, die sich direkt auf die Unterhaltsbeiträge auswirken.

Kann die alternierende Obhut auch gegen den Willen eines Elternteils eingesetzt werden?

Ja, wenn das Wechselmodell (voraussichtlich) dem Kindeswohl entspricht und weitere Voraussetzungen erfüllt sind.

Müssen alle Entscheidungen gemeinsam getroffen werden?

Nein. Die gemeinsame elterliche Sorge gebietet ungeachtet des Betreuungsmodells, dass die Eltern wichtige Entscheide z.B. betreffend Ausbildung oder medizinische Eingriffe gemeinsam treffen. Alltägliches entscheidet der jeweils betreuende Elternteil selbst, wie etwa Schlafens- oder Bildschirmzeit. Es gibt jedoch auch immer wieder Entscheidungen zu treffen, die weder in die eine noch in die andere Kategorie fallen, weil gerade bei alternierender Obhut beide Eltern betroffen sind, weshalb solche Entscheidungen gemeinsam gefällt werden sollten, damit dieses Modell im Sinne des Kindeswohls funktioniert. Es ist somit einerseits hinzunehmen, dass es gerade im Alltag Unterschiede zwischen den „Hausregeln“ der Eltern gibt. Andererseits sollten die Eltern ungeachtet dessen offen und konstruktiv über Kinderbelange kommunizieren, z.B. definieren, was ihnen wichtig ist und Kompromisse suchen, damit für die Kinder alles möglichst harmonisch abläuft. Ein gewisser Konsens in Kinderbelangen sollte vorhanden sein.

Leider sieht die Realität teilweise anders aus, weil auch Eltern, welche ihre Kinder alternativ betreuen, nicht willens und/oder im Stande sind, Triviales emotionsfrei und sachlich zu diskutieren. Die Kinder leiden unter diesen Spannungen.

Wichtige Entscheide müssen Eltern gemeinsam treffen, Alltägliches allerdings nicht. Grundsätzlich sollte zwischen den Elternteilen jedoch ein gewisser Konsens bestehen, wie die Kindererziehung aussehen soll. Nur so kann das Modell reibungslos funktionieren.

Wie sollte ich vorgehen, wenn ich mit einer Entscheidung nicht einverstanden bin?

Idealerweise wird das Gespräch und eine einvernehmliche Lösung gesucht. Alltägliche Differenzen sind teilweise nicht justiziabel. Das heisst, das Gericht greift bei Unstimmigkeiten nur dann ein, wenn eine Kindswohlgefährdung vorliegt, was bei alltäglichen Streitigkeiten regelmässig nicht der Fall ist.

Falls keine einvernehmliche Lösung zustande kommt, gibt es aber auch andere Möglichkeiten. Es gibt Beratungsstellen, an die sich Eltern wenden können. In gravierenderen Fällen kann auch ein Anwalt aufgesucht werden, der darüber Auskunft geben kann, ob rechtliche Massnahmen eine Option sein könnten.

Zu bedenken ist allerdings auch, dass die Kinder bei gewissen sie betreffenden Entscheidungen ein altersadäquates Mitspracherecht haben. Das gilt auch für die oben besprochene Grundsatzfrage der Aufteilung der Betreuungsanteile, bei denen jüngere Kinder i.d.R. nicht angehört werden und mitbestimmen, während Kindern ab 14 Jahren kaum ein Modell gegen ihren Willen aufgezwungen werden kann.

In diesem Zusammenhang interessant ist die aktuelle Frage der Corona-Impfung für Kinder ab 12 Jahren. In einem Fall, in dem sich die Eltern nicht einig waren, ob ihre minderjährigen Kinder gegen Masern geimpft werden sollen, hat das Bundesgericht im letzten Jahr mit Verweis auf die Empfehlungen des BAG für den impfwilligen Vater entschieden, nachdem sich die beiden Vorinstanzen auf den Standpunkt gestellt hatten, eine Kindswohlgefährdung könne bei Nichtimpfung nicht angenommen werden, weil es keinen Impfzwang gibt. Gewisse Kreise leiten nun aus diesem Entscheid ab, dass Kinder ab 12 Jahren auch im Fall, in dem sich Vater und Mutter gegen eine COVID-Impfung ihrer Kinder aussprechen, selbst entscheiden könnten. Diese Interpretation ist m.E. klar abzulehnen, weil eine solche Entscheidung im Rahmen der elterlichen Sorge von den einigen Eltern gefällt werden darf und soll und dem Staat keinerlei Entscheidbefugnis zukommt, solange er den Eltern die elterliche Sorge nicht in einem rechtsstaatlichen Verfahren entzieht.

Was ist in Ihrer Erfahrung besonders wichtig, damit dieses Modell reibungslos funktioniert?

An erster Stelle steht neben der reibungslosen Kommunikation der Eltern auch die geographische Nähe der beiden Haushalte. Letzteres ist besonders bei jüngeren Kindern wichtig. Generell gilt: Je besser und offensichtlicher die Eltern harmonieren, desto mehr profitiert auch das Kind davon. Es ist für seine Entwicklung von grosser Bedeutung, dass klar ist: Die Eltern sind zwar getrennt, aber verstehen sich gut und ziehen in wesentlichen Kinderbelangen am gleichen Strick.

Wie können Sie als Rechtsanwalt hier unterstützen, falls es z.B. zu Streitigkeiten kommt?

Bei der alternierenden Obhut stellen sich neben der Betreuungsregelung auch zahlreiche Fragen im Zusammenhang mit der Finanzierung, respektive dem Unterhalt. Ich unterstütze meine Mandantinnen und Mandanten bei der Findung von einvernehmlichen Lösungen. Gerade im Zusammenhang mit der alternierenden Obhut drängen sich solche hinsichtlich der künftig notwendigen Zusammenarbeit der Eltern auf. Manchmal ist dieser Weg aus unterschiedlichsten Gründen nicht gangbar. Dann vertrete ich die Interessen meiner Mandantinnen und Mandanten vor Gericht.

Behalten Sie als Eltern das Kindeswohl immer im Blick. Das ist das A und O und daran orientieren sich auch die Gerichte.

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Lic. iur. Andreas H. Brodbeck

Rechtsanwalt für Familienrecht
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